Psychoanalytische Narzissmus-Verwirrung

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Im Ordner “Entwürfe” hat ein Artikel geschlummert, der auf einen passenden Zusammenhang gewartet hat:
Das Kapitel “Narzissmus in der Psychoanalyse” musste doch im Text zum “Narziss-Komplex” vertreten sein, und Fachleute für damit zusammenhängende Fragen müssten doch zu finden sein, zum Beispiel in einem renommierten Psychologie-Lexikon; doch da störte mich gleich, dass “Sage” und “Mythos” wie ein Begriff verwendet werden.

Im Lexikon ist Narzissmus ein

“Begriff nach dem Jüngling Narcissus der griechischen Sage, der sich in sein Spiegelbild verliebte.”

Das klingt ganz plausibel, ist aber kein systemisch-systematisches Denken: Unterscheiden wir nämlich zwischen Sage und Mythos, ist das oben gesagte nicht mehr gültig, denn es gibt einen Unterschied zwischen Mythos und Sage – Bill Gates ist zum Beispiel sagenhaft reich, aber nicht mythologisch, ohne Bezug zum Götterhimmel, wenn er auch trickreich wie Hermes die Logik des Marktes ausgenutzt hat.

Der Jüngling, der sich in sein Spiegelbild verliebte ist zudem gewissermaßen das vorläufige Schlussbild einer langen Geschichte, zu der Vorgeschichte und Seitenstränge gehören, der Mythos Narziss ist mit anderen Mythen verknüpft oder verwebt, verquickt und vielleicht auch verworren-verwirrend, je nach Güte der Überlieferungs-Version.

Systematisch von Freud (1914b) diskutierter Begriff von metaps. Rang, dessen Grundzüge er bereits am 10. Nov. 1909 in einer Diskussionsbemerkung zusammenfasste; der N. «sei keine vereinzelte Erscheinung, sondern eine notwendige Entwicklungsstufe des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe (Objektbesetzung).

Bei dem “Begriff von metapsychologischem Rang” wird wohl viel mit “-ismen” gearbeitet und weniger mit dem Mythos; sicherlich kann man bei Narziss “Erotismus” nachweisen – größtenteils erst gegen Ende der Geschichte, und nicht im Zusammenhang mit der Entwicklung von “Objektliebe”, die zunächst einmal der Mutter gelten würde, die aber, im Mythos als Nymphe namens Liriope vorgestellt, ist mehr ängstlich (und angstauslösend) als liebenswert, lässt keine sichere Bindung zu, versteckt sich hinter orakelhaften Bemerkungen eines prophetischen Leibarztes und “Sehers” – dessen Rolle hat Freud wohl nicht interessiert…

Die Verliebtheit in die eigene Person (= in die eigenen Genitalien) sei ein notwendiges Entwicklungsstadium» (Nunberg & Feder 1977, S. 282). Neben (1) einer Phase der Libidoposition (Libido) in der psychischen Entwicklung (primärer N.) bezeichnet der Begriff aber auch (2) eine sexuelle Perversion (der eigene Körper als Sexualobjekt), (3) einen Modus der Objektwahl (nach dem narzisstischen Typus), (4) das Schicksal einer aufgegebenen Objektwahl (sekundärer Narzissmus) und (5) Aspekte der Regulation des Selbstwertes (Selbstachtung, Selbstliebe) im Zusammenhang mit dem Ich-Ideal, das narzisstischer Herkunft ist: gezwungen den primären N. zu verlassen, kann das Ich dennoch einen Teil der Libidoposition retten, indem es die idealen, grandiosen Bilder von Vollkommenheit und grenzenloser Liebe auf diese Instanz überträgt und nun – statt sich selbst – das eigene Ideal liebt.

Im Zusammenhang mit der Selbstverliebtheit wird auch das “bisexuelle” Begehrt-Werden durch die Umwelt zu diskutieren sein. Eine libidinöse Besetzung der Genitalien mag zwar auch narzisstisch sein, aber nicht exklusiv narzisstisch, könnte also auch in einem anderen Zusamenhang auftreten. Wir wissen zwar, was mit “phallischem Narzissmus” gemeint ist, haben aber Bedenken, diesen Begriff so zu verwenden: Was ist hier das spezifisch “narzisstische” – etwa der Wunsch, bewundert zu werden, und wie ausgeprägt war der bei Sigmund Freud, der sich ja per Selbst-Analyse so trefflich selbst erkannte?

Die begriffliche Verworrenheit um “den Narzissmus” korrespondiert mit dem Fakt, dass mit Narziss ein Beispiel für einen neuartigen Wahnsinn auftauchte – so die Aussage des Mythos, und wenn wir die Mythologie als ein großartiges Erbe, einen (großteils noch ungehobenen?) Schatz verstehen, ist auch von diesem Standpunkt aus ein Zugang zum heutigen Wahnsinn, den wir nun einmal mit “Narzissmus” bezeichnen, möglich.

Mit der schillernden Vielfalt der psychoanalytischen “Bezeichnungen”, Begriffe und Theorien müssen wir leben. Was bei der dialektischen Verschränkung von Narzissmus und Trieb geschieht, zu welchen Szenen und Dramen diese führen können – das zu wissen, muss nicht schön sein.

Argelander (1971) … meint, der N. folge einem Sicherheitsprinzip (die Triebe dem Lustprinzip). Kohut (1966) kritisierte die den N. abwertende Gegenüberstellung zur Objektliebe als «einengend» für die klinische Praxis und trat für die Rehabilitierung des Begriffs ein, was schließlich in einer eigenen Selbstpsychologie mündete, die eine eigene, von den Trieben unabhängige, Entwicklung der narzisstischen Linie … postulierte. Kohut hielt «die Entdeckung, dass bei den narzißtischen Persönlichkeitsstörungen … der Zusammenhalt des Selbst unsicher ist», für „einen meiner wichtigsten Befunde” (Kohut 1975, S. 252).

 

Die Verwendung des psychoanalytischen Vokabulars, die psychoanalytische Theoriebildung gleicht hier einem Gang ins Labyrinth. Es ist zwar schön, dass einzelne Abschnitte des verwirrenden Baus genau beschrieben sind – aber einen Weg hinaus gibt es nicht ohne roten Faden. Der aber ist immer wieder gerissen und sollte neu geknüpft werden.

Häufig beginnt die “Narzissmus-Recherche”, wie hier, mit “dem Mythos”. Das sei, so denkt man, der Beginn des Fadens, den man aber sogleich wieder fallen lässt, weil man meint, der Anfang sei mit zwei, drei Sätzen hinreichend erklärt. Wir sind ja so modern, und was unsere Vorfahren über die Menschheit herausgefunden haben, kann nicht interessieren.

Wäre es möglich die Narzis-Episode in drei Sätzen zu erzählen, hätte OVID sie wohl auch so weit verkürzt – das hat er aber nicht getan, sondern sie, sehr wohl verdichtet, in den Metamorphosen dargestellt.

Der Zweck dieses Werks wird nicht “nur” der Erhalt der Überlieferung gewesen sein, sondern muss auch Verstehen, Erkenntnis, Verständnis und Empathie als Hintersinn gehabt haben. Wie auch der folgende Text:

Es mag schwer sein, zu erkennen, dass hinter all den seltsamen Eitelkeiten, Forderungen und Feindseligkeiten [der schweren Neurose] ein Mensch steht, der leidet, der sich für immer von allem ausgeschlossen fühlt, was das Leben erstrebenswert macht, der weiß, dass er, selbst wenn er bekommt, was er will, es nicht genießen kann.
Wenn man die Existenz all dieser Ausweglosigkeit erkennt, sollte es nicht schwer sein, die scheinbar übermäßige Aggressivität oder sogar Gemeinheit zu verstehen, die durch die jeweilige Situation nicht erklärbar ist. Ein Mensch, der so von jeder Möglichkeit des Glücks ausgeschlossen ist, müsste ein wahrer Engel sein, wenn er nicht Hass auf eine Welt empfinden würde, der er nicht angehören kann.

Karen Horney, The Neurotic Personality of Our Time (1937), pp. 227–228

Als “Bonmot” zu “Narzissmus und Verzeihen

bietet sich, das Thema “Narzissmus in der Psychoanalyse” hoffentlich abschließend, an:

Personen, denen es leichtfällt, zu verzeihen, sind weniger narzisstisch, dafür aber empathischer.

Stichwort
| Prof. em. Dr. Hans-Werner Bierhoff

 

Literatur zu diesem Artikel:

Kohut, H. (1974). Narzißmus. Frankfurt: Suhrkamp.

Wahl, H.-W. (2000). Narzissmus, narzisstische Persönlichkeit. In W. Mertens & B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. (S. 473–478). Stuttgart: Kohlhammer.

 

 

Mehr “Narzissmus” in: “Der Narziss-Komplex”

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