Einseitige Liebe und Liebe zu einem Spiegelbild oder “Schatten”, Melancholie und Manie: Gegensätze, die einander bedingen, Begriffe, die allein nicht zu denken sind. Das Verharren im Extrem, das Zerrissen-Sein zwischen den Extremen, ideales oder vollkommen unzureichendes Ich wie auch Idealisierung und Objektalisierung: Nur, was vereinbar ist, ist funktional.
Auf der Mittellinie – die ich die thymische (von thymos, Stimmung) Gerade nenne, die Ichlibido von Objektlibido scheidet, die Gerade, die von der Melancholie zur Manie verläuft finden wir zwei Pole, die durch die Sage von Narziss und Echo beschrieben werden. Narziss verkörpert die Position des „idealen Ich“, den fragilen Punkt, wo Ideal und Objekte gleich weit vom Ich entfernt sind, während Idealisierung und Objektalisierung in einem unstabilen Gleichgewicht stehen. Am entgegengesetzten Ende finden wir Echo, die Nymphe, die den Narziss liebt, aber nicht wiedergeliebt werden kann, weil sie nur …das Echo des Ichs ist. (ego’s echo) Sie vertritt die subjektive Vernichtung, in der die/der Liebende darauf reduziert wird, der verblassende Schatten des Geliebten zu sein. Die ewige schüchterne alte Jungfer, die gleichzeitig vom Ideal und von jedem männlichen Partner zurückgewiesen wird. Entlang derselben Linie zwischen der verschwindenden Nymphe Echo und dem übermäßig hervortretenden Narziss können wir die gegensätzlichen Helden platzieren, die Goethe schuf. Am melancholischen Ende dieser Linie ist der traurige suizidale Werther, und am manischen Ende der Triumph des übermenschlichen Faust, der die Gesetze von Göttern und Menschen hinter sich lässt. Generell finden wir in Goethes Welt die poetischen Inkarnationen einer Art von Subjektivität, die zwischen maximaler Idealisierung und der krudesten libidinösen Triebhaftigkeit balanciert
Sergio Benvenuto (Rom) Freuds Annäherung an Trauer und Melancholie und danach http://www.psychoanalyse-zuerich.ch/fileadmin/files/documents/091127-Benvenuto-Melancholie_dt.pdf
Man ist versucht, bei dieser Erklärung ein Koordinatensystem anzulegen, in dem die “thymische Linie” eine Hauptrolle spielt.