Der autistische Blick auf das Gesicht des Anderen

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Die Autistin schaut einen Film – auf einem Monitor, der mit Sensoren versehen ist, die ihre Augenbewegungen registrieren.

Später kann man den Film ablaufen lassen, und ein blauer Punkt zeigt, auf welche Stellen des Gesichts sie geschaut hat.

Was bedeutet es, dass sie nicht in die Augen schaut, sondern auf die Stirn?

Der Film “Was ist anders an Nicole?” aus der Reihe Quarks&Co stellt diese Frage erst gar nicht.

Die Antwort müsste davon ausgehen, dass Nicoles “Blickmuster” entweder gelernt oder angeboren ist. Die These vom angeborenen Verhalten scheidet aber aus, weil das Erkennen von Emotionen in der Mimik – bei dem auch Nicht-Autisten Fehler machen – demzufolge mehr oder weniger komplett gelernt wird.

Angeboren ist allerdings der Ausdruck der primären Emotionen in der Mimik…

 

 

Menschen erlernen die Bilderkennung. Wir wissen, dass ab dem Alter von drei Monaten ein “blickerwiderndes Lächeln” auftritt: Der Säugling hat glernt, Gesichter zu erkennen, und lächelt, wenn er mit einem Gesicht konfrontiert ist.

Dabei handelt es sich um einen erlernten Auslösereiz, nicht um einen AAM, angeborenen Auslösemechanismus. (Im weitesten Sinne “ähnlich” ist die Prägung der Graugans auf den erstbesten Gegenstand, der sich bewegt; sie “lernt” schneller – und sie kann sich auch schon viel früher bewegen.)

Die Differenzierung der Gesichter – sozusagen in gut und böse, genauer: Bekannt und fremd – braucht beim Menschen weitere fünf Monate; Für das Alter von acht Monaten lässt sich das “Fremdeln” ansetzen, das die gelungene Unterscheidung “Meinen Kreisen zugehörig” und “Nicht mein Umfeld” anzeigt. Damit einhergegangen ist natürlich auch eine gehörige Ich-Entwicklung.

Schon die ersten Anzeichen, dass ein Gesicht als Gesicht erkannt wird, sind mit Affekten verknüpft; da es sich beim Lächeln um den Ausdruck von Freude handelt, mit positiven Gefühlen: Das visuelle Lernen, bei dem es zunächst um die “Aufgabe”, überhaupt und “undifferenziert” Gesichter als solche zu erkennen, geht,  ist zunächst mit Wohlgefühl verbunden.

Die zuverlässigste und entspannteste Situation, in der der Säugling ein Gesicht betrachten kann, dürfte das Stillen sein. Dabei ist das Gesicht der fütternden Person in einer wiederkehrenden Situation einem optimalen und gleichmäßigen Abstand zu seinen beiden Augen, die eine stereoskopische, räumliche Wahrnehmung ermöglichen.

Was erkannt wird, ist ein nach und nach sich ausdifferenzierendes Muster oder Schema.   Vielleicht ist die Blickachse zunächst noch starr, beide Augen des Säuglings schauen geradeaus, weil sie sich noch ncht auf einen Punkt konzentrieren können.
Unter dieser Voraussetzung erhält jedes Auge des Säuglings die visuelle Information des gleichen Bildes, nämlich eines Auges – wenn auch das eine Bild gegenüber dem anderen seitlich gespiegelt ist.

 

Das archaische Urgesicht

Welches Gesamtbild ergibt sich nun für die Wahrnehmung, wenn das Gehirn die visuellen Informationen, die beide Augen “einspielen”, zu einem 3-D-Bild “hochrechnet”?

Davon kann man sich unterschiedliche Vorstellungen machen; wir können aber davon ausgehen, dass es in den Tiefen unserer visuellen Wahrnehmung Spuren eines wenig ausdifferenzierten, “archaischen” “Urgesichts” gibt.

Von dem Zusamenfallen der Bilder des rechten und linken Auges in dem Bild eines Auges zeugt vielleicht noch die archaische (archetypische?) Figur des Zyklopen, der bei Dali unzweifelhaft auch weibliche Eigenschaften hat.

Später einmal kann das Kind sich in den Augen der Mutter spiegeln: Beim nahen Kontakt mit einem Gegenüber, dem man in die Augen schauen kann, erscheint das eigene Bild, wegen der Krümmung des Augapfels verkleinert – in, oder auf dessen Augen: “Pupille” bedeutet im französischen denn auch “Püppchen”.

Was wir so erblicken, entspricht von der perspektivischen Verzerrung in etwa der Darstellung eines Weitwinkelobjektivs, das über den 90-Grad Fokus  des geschulten Auges hinaus mehr Informationen von den Bildrändern liefert, und – nebenbei gesagt – mehr Tiefenschärfe.

Dalis Polyophem hat merkwürdigerweise eine Stupsnase und eine hohe Stirn. Wir können, was das archaische Urgesicht betrifft, annehmen, das es einigen Umformungen unterliegt, bis zur vollständigen Differenzierung bei der Gesichtserkennung.

Aber auch Kopf und Gesicht haben ihre Entwicklung, was Proportionen und Ausdruck betrifft.

Wie diesbezüglich das Schema des archaischen Urgesichts gestaltet ist, lässt sich wohl nicht wissen, aber vielleicht doch erahnen:  Wenn wir die Szene, in der Narziss an der Urquelle dargestellt wird, als eine permanente Regression verstehen, wird das, was er zum Schluss sieht, das sein, was der Mensch am Anfang wahrnimmt.

 

Wir müssen uns nur noch den nach unten, zum Wasser der Quelle geneigten Kelch der Narzissenblüte vorstellen, wahrgenommen allerdings mit einem getrübten Blick. Auf der affektiven Eben damit allerdings – bei Narziss – verknüpft mit viel Liebe und Verzweiflung um die Thematik Einheit, Getrennt-sein, Nähe, Berührung, Schmerz, Ich-Du-Differenzierung, Selbstliebe, Objektliebe, Hingabe, Hoffnung.

Die Aufgewühltheit des Narzis empfinden wir zum Glück nicht, nur weil wir in ein Gesicht blicken. Was wir in einem Gesicht erkennen, muss aber mit dem Erleben am Anfang zusammenhängen, und, wie wir am Angang gesehen haben, nicht immer schauen Menschen ihrem Gegenüber in die Augen.

 

 

 

 

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