#Hanau1902: Erinnern, Gedenken, Handeln

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Wenn heute mit “Hanau 1902″ ein Ereignis bezeichnet wird, ist der Terrorakt vom 19.02.2020 gemeint, an dem der Sohn einer Hanauer “Familie”  eine türkische Frau, acht türkische Männer und anschließend seine Mutter und sich selbst ermordet hat.

Die Türken waren unter sich, an ihren Treffpunkten, darunter eine Sisha-Bar, was eigentlich einen gewohnten Teil des Stadtbilds ausmacht – in Deutschland gibt es zwar keine “Chinatowns”, aber doch “nicht so ganz typisch deutsch” geprägte Stadtviertel mit Zugezogenen, die sich vielleicht nie ganz assimilieren wollen und werden – wen störts…
Es gibt auch keine einheitlichen “deutschen” Stadtviertel, sondern alles ist fein aufgegliedert, nach Herkommen, Einkommen, Vorankommen, Aufstieg und Abstieg, Chancen, Glück und Pech.

Heimat war Hanau den jungen Türk*innen so gut es konnte, als einigermaßen weltoffene Stadt, bei der “Zuwanderung” sozusagen zum historisch-genetischen Code gehört, dazu kann man die Stadtgeschichte studieren, einen “Heimatfilm” anschauen, oder hinfahren und sich selbst ein Bild machen.

Für mich selbst ist Hanau im weitesten Sinn auch Heimat, als im Landkreis Geborener habe ich in etlichen Formulare zum Geburtsort als Zusatz “/Kreis Hanau” ausgefüllt; die Zeiten ändern sich, ich stamme aus einer Zeit, als die Nebenbahn noch mit Dampfkraft betrieben wurde…

Unter Denkmalschutz, aber verfallen: An den Rändern der Provinz  wird deutlich, wo wir (keine) Prioritäten setzen. Bild: Wikipedia, cc. 

 

Die Verbindung zu “Hanau” stellt sich über den Heimatbegriff her: “Mein Dorf” liegt in der gleichen Gegend wie Hanau, es gibt klimatische Verwandtschaft und ähnlichen Dialekt. Ich kenne das heimisch-brüchige Zugehörigkeitsgefühl der Zugezogenen, aber auch die Fremdheit der Weggezogenen.

 

Ein Denkmal der Gebrüder Grimm steht in ihrer Geburtsstadt, auf einem viel zu hohen Sockel. Über deutsche und türkische Märchen könnte man sich auch austauschen – das macht die Verstorbenen nicht mehr lebendig, aber es geht darum, sie nicht zu vergessen. Da stellt sich die Frage, mit welchen “kulturellen Geschichten” sie sich beschäftigt haben; im Prinzip geht es ja nur um Nuancen, da die Werte, die solche alten Geschichten bewahren sollen, überall die gleichen sind.

Trotzdem musste da ein pathologischer, hasserfüllter Wirrkopf  “die Fremden” “auslöschen”,  und diesen Erfolg will ich ihm nicht gönnen.

Eher soll unter “Hanauer Zustände” ein “Hanau steht zusammen” zu verstehen sein, eine Grundhaltung des Respekts bei Anerkennung aller (zwischenmenschlichen) Unterschiede.

 

Auch abseits der Gedenkveranstaltungen SIE nicht zu vergessen heißt vielleicht, traurig sein, dass ein gemeinsames Gespräch nicht mehr möglich ist.

Es sollte bedeuten, den eigenen Wert einer “türkisch-deutschen” Kultur anzuerkennen, von ihr zu profitieren.
“Befremden” über das Andersartige kann viele Gründe haben – das hat manchmal auch ganz plausible Gründe aus der “Biologie” der Sprachaneignung zum Beispiel, so dass uns die jeweils eigene Sprachmelodie vertrauter ist, wir bereits vorgeburtlich, mehr noch natürlich im “richtigen Leben”, daraus Informationen über die eigene Gruppenzugehörigkeit herleiten. Auf  Manche wirkt  “Fremdes” nicht interessant, gar verstörend, verschreckend, dann fehlt es an Vertrauen, an Urvertrauen schlimmstenfalls, doch ist “das Fremdeln” eigentlich in der kindlichen Entwicklung normal, wäre sein Ausbleiben Grund zur Besorgnis.

Man kann aber auch den Standpunkt vertreten, dass “Unbekanntheit” kein Dauerzustand sein muss.
Wenn eine Gesellschaftsanalyse unter Anderem herausstellt, dass es um die zwischenmenschlichen Beziehungen allgemein noch nicht oder nicht mehr zum Besten steht, sollte das Anlass zu Reperatur-Bemühungen sein. Dass insgeheim ein “richtig deutscher Neid” auf die herzlichen, echten Familienbeziehungen “der Ausländer”  keimt, mag aber niemand zugeben.

Das muss auch nicht sein, zeigt doch näheres Nachdenken, dass hier eine große Portion an Projektion, seelisch-psychischem Schattenspiel, im Spiel ist. Wenn wir diesen Neidzusammenhang bereits als “Rassismus” bezeichnen, kommen wir nicht umhin, die Defizit-bedingte Denkweise des Rassisten, der Rassistin anzuerkennen.

Die Unterscheidung der fließend verlaufenden Begriffe Fremdenfeindlichkeit und Rassismus können wir  akademisch  Veranlagten überlassen, müssen dabei aber unbedingt  die Grenze zum rechtsradikalen Kampf  sehen:
Jahrelang war in der öffentlichen Wahrnehmung z. B. das perfide Morden des NSU nicht als solches wahrgenommen worden. Ich selbst hatte jedenfalls Nazis für so ausgestorben wie Dinosaurier gehalten und Leute, die Hitlers “Mein Kampf” unter dem Ladentisch erstanden, als verwirrt, aber harmlos betrachtet. Über “irgendwelche Familienfehden” konnte man sich nur wundern, es galt das Motto “Nichts Genaues weiß man nicht” und “das ist dann wohl deren Sache”.

Untersuchungen hierzu sind schlecht und unzugänglich dokumentiert, so dass auch schon gemutmaßt wurde, selbst die Ordnungshüter, also Personen bei der Polizei bzw. Behörden hätten ihre eigene Strafvereitelung betrieben.

Das ist dann ein deutlich größeres Kaliber als ein „Ich habe ja nichts gegen diese Fremden, aber diese Fremden sind nicht von hier“, das je nach Kontext noch als harmlos und Blödelei durchgehen kann. Es gilt auch: Die Dosis macht das Gift.

Rechtsextremismus ist  eine der größten Gefahren für unsere Gesellschaft und ihr Funktionieren, so die Bundesinnenministerin Nancy Faeser in der aktuellen Stunde zu Hanau im Bundestag:

„Die Spur des rechten Terrors zieht sich durch unsere jüngere Geschichte“, sagt Faeser und nennt beispielhaft die Vorfälle in den 90er-Jahren in Solingen, Mölln und Hoyerswerda, die Morde des NSU, den Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie den Terror von Halle und Hanau. „Wer es vorher nicht verstanden oder verharmlost hat, dem muss es nach Hanau endlich klar sein: Der Rechtsextremismus ist die schlimmste Bedrohung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, sagt die Bundesinnenministerin.

Nun – “Extremismus” ist ein Begriff aus der Politikwissenschaft, und hier ist jedenfalls ein weites Feld, mit dem ich nicht direkt vertraut bin.
Dieser mörderische Extremismus/Rassismus wäre unmöglich ohne die psychische Pathologie der Täter, und passenderweise gibt es von der Bundeszentrale für politische Bildung eine Schrift  “Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach dem Führer”.

Jedoch geht es hier nicht um eine Narzissmus-bezogene Spurensuche und “Täteranalyse”, sondern um die Erinnerung an die Opfer, darum, einen Beitrag zu leisten, dass sie unvergessen bleiben.

Faeser mahnt: „Viele Menschen in Hanau kannten die Opfer, der Täter kannte sie nicht und doch wollte er genau sie treffen. Er ermordete neun Menschen, weil sie eine Einwanderungsgeschichte haben. Er erklärte sie zu Fremden. Das waren sie aber nicht. Sie waren Teil unserer Gesellschaft. Daran dürfen wir als Staat nicht den geringsten Zweifel lassen.“ Gleichzeitig verspricht sie: „Wir werden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov nie vergessen.“

“Handeln” – das war quasi intuitiv in die Überschrift geraten, denn folgenloses Gedenken ist doch zu wenig gegenüber den feindlichen Lebensfeinden. Völkerverständigung nach dem Motto “Kochst Du Türkisch” – meinetwegen, das könnte etwas ausmachen. Sagen wir mal: Was setzt man den  lebensfeindlichen Tendenzen, den negativen Energien der Nazis und anderer Ultras entgegen?

 

Einschub/Nachtrag 24.05.2022

Aus den Medien war kürzlich über die kommende Gedenkstätte zu erfahren, dass noch nicht klar ist, welcher Entwurf gewählt wird, und dass noch weniger klar ist, wo die Gedenkstätte eingerichtet wird.

Der Marktplatz sei zwar groß. aber schon von den Gebrüdern Grimm “besetzt”. Wer aber weiß, wie die Gebrüder und Märchen/Sprachkundigen darüber denken würden, dass sie sich den Platz mit einem Anliegen der neueren Geschichte teilen sollen? Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sie sich gegen sich ändernde Zeiten nicht wehren wollen würden und kein Selbstbetrug, anzunehmen, dass sie  “doch eher fortschrittlich und demokratisch gesinnt” empfunden haben.

 

Und jetzt höre ich auch schon auf. Sicher fällt Euch vieles ein, und wenn ihr nur die Hälfte davon umsetzt, wird gleich viel mehr gelächelt auf dieser einen und einzigen Welt.

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