Klassiker

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Als “Klassiker der Schullektüre” wird Thomas Manns “Buddenbrooks” beim SWR dargestellt – wobei es im Klassiker den Klassiker gibt: Hanno, der letzte männliche Buddenbrooks, muss in seinem 16. Lebensjahr, kurz vor seinem Tod, in der Oberschule aus den “Metamorphosen” rezitieren.

Die Szene (XI, 2., 799), die von der Machtausübung des Oberlehrers Dr. Mantelsack, “… willkürlicher Tyrann mit wechselnden Vorlieben und Abneigungen” (Quelle) und des Direktors handelt, erhellt die gymnasiale Hinführung der Schüler zu vergangener Kultur: Schönheit sollte im Zustand der Verängstigung, unter Zwang und Prüfungsdruck, empfunden werden. Der Rüffel des Oberlehrers: “Du hast die Schönheit in den Schmutz getreten” scheint ja vorauszusetzen, dass der Pädagoge weiß, wovon er spricht – von welcher Schönheit er hier spricht – das vermittelt er jedoch nicht. Er beurteilt Schüler:

»Das ist vollständig ungenügend, Mumme! Setzen Sie sich hin! Sie sind eine traurige Figur, dessen können Sie versichert sein, Sie Kretin! Dumm und faul ist zuviel des Guten …«

Immerhin: Thomas Mann muss  das Werk des OVID zur Kenntnis genommen haben, wenn auch, wahrscheinlich,  nur als Schüler und dann nie wieder. So versteckt, wie OVID hier auftaucht, heißt das nicht viel, nur, dass OVID Teil dieser Kultur war und ein Mittel, Schüler zu quälen.
Denen war es dann nicht mehr möglich, OVID als Vordenker der Freiheit und Menschenrechte zu erleben, ihn unbefangen zu interpretieren.

 

Die Schönheit der Metamorphosen

Dass eine Metamorphose eine Verwandlung ist – etwa vom Ei zur Raupe, die sich einspinnt und als Schmetterling wiederaufersteht, ist aus der Biologie bekannt; dass das römische Buch  “Die Metamorphosen” heute eher unbekannt ist, liegt vielleicht am Wandel der Kulturen, die mit der Zeit andere Inhalte und Formen von Erzählung und Überlieferung hervorbringen.

Verwandlungen also waren der Gegenstand bei dem römischen Schriftsteller OVID, der in einer Zeit lebte, mit der unsere Zeitrechnung begann – Metamorphosen von A bis Z sozusagen, oder auch von den Anfängen bis zur Gegenwart nach Christus; im Lateinunterricht am Gymnasium  der Hansestadt

Von den Anfängen zu erzählen heißt immer, sich in die Mythologie zu begeben; bei OVID fing alles mit dem Chaos an, aus dem sich Erde und Himmel herausbildeten, festes Land und Wasser trennten, hell und dunkel, beseelte und unbeseelte Natur.

Also kein Urknall aus dem Nichts, wie der “wissenschaftliche Schöpfungsmythos” unserer Tage “erklärt” und kein Schöpfer, der sich am siebten Tag ein wenig Ruhe gönnte, aber eine Ur-Ordnung und eine Entwicklung mit vielen (Zwischen-) Stationen, an deren Ende der herrschende Kaiser  den Bürgern als neuer Stern am Himmel – allzeit präsent und ewig unvergessen – scheinen und glänzen würde, während die Dichter, vermittels ihres allzeit bedeutsamen Werks, ja ohnehin unsterblich-göttlich zu denken seien.

Mit dem Begriff “Schönheit” dürfte der im preußischen Stil lehrende Pädagoge einige Schwierigkeiten gehabt haben – bei Heinrich Mann können wir den Kampf des Pädagogen im Buch “Professor Unrath” oder im Film “Der blaue Engel” illustriert finden.

Professor Rath war nicht oder schlecht beraten, was “Liebesdinge” betrifft – hätte er OVID und dessen Buch “Die Liebekunst” verinnerlicht, wäre ihm manche Schmach erspart gebleiben.

Davon abgesehen, ist hier die rechte Gelegenheit, einzufügen, dass es dem Lehrer und der Künstlerin nicht um die Liebe zum Gegenüber, sondern um die Selbstliebe geht, wenn auch in je besonderer Abhängigkeit zum Anderen – sie “hadern” mit dem “Narzissmus”: Endlich ist auch das eigentliche Thema dieser Ausführungen genannt…

Die “Schönheit”, wie sie in den Metamorphosen sich äußert, ist von einer anderen Art, bezogen auf das Thema “Verwandlungen”” gibt es da eine “zentrale Stelle” unter dem Thema “Vergänglichkeit“:

“Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen, und in der Weite der Welt geht nichts – das glaubt mir – verloren; Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden heißt nur anders als sonst angefangen zu sein, und Vergehen nicht mehr sein wie zuvor. Sei hierhin jenes versetzet, dieses vielleicht dorthin: Im Ganzen ist alles beständig. Unter dem selbigen Bild – so glaub’ ich – beharrt auf die Dauer nichts in der Welt.”

Die Stelle ist zentral, aber unverständlich – sie zu verstehen, ist, weil es heißt “Der Ton macht die Musik” von der Betonung abhängig, nicht ganz einfach; hier eine Hilfe zum laut Lesen:

Wir kennen die philosophisch angehauchten Phrasen “Alles ist im Fluss” oder “Das einzig konstante ist der Wandel”, wissen auch, dass man niemals in denselben Fluss steigt – bei all dem Fließen findet jede(r) seine/ihre zentrale Aussage, und Nichts bleibt, wie es ist.

Insgesamt geht nichts verloren, selbst wenn auch ein Bild sich nicht ändert, hat doch das gleiche Bild verschiedene Bedeutungen, und streng bewiesen ist hier nichts, es geht bei Konstanz und Wandel ausdrücklich um Glaubensfragen – um vom Glauben an die Veränderungen der Welt überzeugt zu sein, genügt ein Blick auf meterologische Daten (Klimawandel) oder ins Geschichtsbuch (gesellschaftlicher, politischer Wandel; König Minos hielt den Ingenieur gefangen, weil der die Geheimnisse des von ihm konstruierten Labyrints kannte) …

Zum obigen Zitat muss noch gesagt sein, dass der Text in den Metamorphose vom Philosophen und Mathematiker Pythagoras vorgetragen wird; hier geht es um Werden und Vergehen, um Tod und Geburt und um die Rolle, die die Seele dabei haben könnte. Mit dem Gedanken, in dem Körper eines Tieres könnte auch die Seele eines verstorbenen Menschen wohnen, begründet Pythagoras seine Mahnung, Tiere nicht willkürlich zu töten, zu “opfern” – und implzit ergibt sich so auch das Verbot, Menschen zu töten und ein Recht auf (körperliche) Unversehrtheit.

Vielleicht war OVID der erste Autor, der solchen Überlegungen Raum gewährt hat; als ich gesagt habe, OVID sei wohl ein Vordenker der Freiheit gewesen, hatte ich an die Dädalus-Ikarus Episode gedacht, die in den Metamorphosen und in der Liebeskunst vorkommt.

 

Fliegende Flüchtlinge, Freiheitsbedürfnis – Bildung

König Minos hielt den Ingenieut Dädalus und dessen Sohn Ikarus auf Kreta fest, und von einer Insel zu fliehen ist ohne Boot ziemlich unmöglich. Aber Dädalos fand eine Lösung, wenn die seinem Sohn Ikarus auch zum Verhängnis wurde.

 

Da es bei Hanno Buddenbrooks Lateinunterricht noch um “das Goldene Zeitalter” ging, dürfte der Latein-Unterricht nur wenig in die Tiefen der Metamorphosen des OVID eingetaucht sein. Der Lateinunterricht sollte ja auch nur “Sprache” vermitteln – und die Verinnerlichung eines Noten-und Wertsystems, und zwar erfolgreich:

Wer unter diesen fünfundzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener Konstitution, stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm in diesem Augenblicke die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich nicht durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich und in der Ordnung sei.

Hinzunehmen, mitleidlos und als nicht zu hinterfragen hinzunehmen, dass nicht alle “das Klassenziel” erreichen, dass regelmäßig auch “mal eine Nicht-Versetzung erfolgt” gilt als gesund, ist noch eines der eigentlichen Erziehungsziele.

Dementsprechend wird, wo OVID denn interpretiert wird, gerne auch überinterpretiert und das Naheliegende übergangen: so geht es “offiziell” bei Dädalus und Ikarus um einen komplizierten Vater-Sohn-Konflikt; das Motiv “Selbstbestimmung über den Aufenthaltsort” (die Minos den Beiden verweigerte), also ein zentrales Menschenrecht, das OVID implizit behandelt, fällt unter den Tisch.

 

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Übersicht:
Ovid, Der Narzissmus-Komplex, Episoden
 

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