Selbsterkenntnis, Tiresias, Narziss

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Sich selbst erkennen, mit sich vertraut sein, selbst-bewusst sein, oder Selbstbewusstsein haben – das sind Anforderungen an den modernen Menschen, die ganz selbstverständlich gestellt werden, vielleicht aber auch eine Überforderung darstellen, jedenfalls in der mythologischen Zeit als gewissermaßen schädlich dargestellt worden sind:

When the nymph Liriope had given birth to a boy she named Narcissus, she asked the seer Tiresias whether her child would live to a ripe old age.

Tiresias’ elusive answer was: “If he never know himself”.

The Latin ‘noscere’ and the Greek ‘gnosis’ share the same root. Both refer to ‘knowledge’ and/or ‘knowing’.

What strange knowing is this . . .

(Quelle)

Wie schädlich ist das Wissen um sich selbst, in welchem Zusammenhang stehen – außer dem wörtlichen – Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis?

Anders gefragt:  Warum führt die Aufhebung der eigenen Fremdheit mit sich (und Anderen) zum Tod, der ja mythologisch eher als Metamorphose, als Verwandlung zu verstehen ist, die das Wesen des Charakters ausdrückt?

Die Selbsterkenntnis gibt dem Menschen das meiste Gute,
die Selbsttäuschung aber das meiste Übel.


- Sokrates

Nach der Metamorphose können wir von Narziss als einer vegetativen Existenz ausgehen; der unheilvolle Spruch des Tiresias hatte die Funktion, den “Klienten” an sich zu binden.

Die Illusion, einen Anderen vor sich zu haben, zustande gekommen mit Hilfe der Vorstellungskraft, Einbildung oder Imagination, gilt ja als “neuartiger Wahnsinn”. Die Illusion ist ein Tagtraum, keine Realität, eine Vorstellung ohne wirkliches Objekt, oder mit einem manipulierbaren Objekt, da das Spiegelbild ja auch nur wiedergeben kann, was das Subjekt ihm “zeigt”.

http://fressnet.de/m170_Narziss_und_Echo.htm#Narziss_und_Echo

 

Vom persischen Herrscher Chusrau Anuschirwan, der von 537 bis 579 regierte, wird überliefert, dass er Narzissen so sehr verehrte, dass er nicht an Gelagen teilnehmen könne, da ihre Blüte ihn an Augen erinnere. In der arabischen Dichtkunst ist seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert die Gleichsetzung von Narzisse und Auge festgelegt. Dieses Bild besteht bis heute. Im 19. Jahrhundert hat der indische Urdu-Dichter Mirza Ghalib deshalb festgehalten:

Damit sie das Grün und die Rose erblicken kann,
hat Gott dem Auge der Narzisse die Kraft zum Sehen verliehen (zit. n. Schimmel, 2001, S. 103)

Nicht immer ist das Bild so positiv. Das weiße Auge der Narzisse kann auch ein blindes Auge sein oder auch ein von Schlaflosigkeit gezeichnetes. Gelegentlich wird die Narzissenblüte auch als Symbol für ein von Liebessehnsucht blind geweintes Auge verwendet.

Eines der berühmtesten Narzissengedichte der arabischen Dichtkunst stammt von Abu Nuwas aus dem 9. Jahrhundert.

Schau an der Erde Gärten und betrachte
die Spur des Künstlerwerks von Gott dem Herrn,
wo Silberaugen, in die Höhe blickend
mit wie aus Gold geschmolznem Augenstern
auf dem smaragdnen Stiele Zeugnis geben,
dass Gott erkennet keinen Nebenherrn. (zit. n. Schimmel, 2001, S. 99)

Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel hat dazu auf die im arabischen Raum verbreitete Legende hingewiesen, dass der wegen seiner Trinklieder und obszönen Liebeslieder eigentlich zum Sünder verdammte Abu Nuwas eben wegen dieses Narzissengedichtes doch noch in das Paradies aufgenommen wurde. Die hohe Wertschätzung, die Narzissen im Vorderen Orient erfuhren und erfahren, drückt sich auch in einem Mohammed zugeschriebenen Ausspruch aus:

Wer zwei Brote hat, verkaufe eines und kaufe sich Narzissenblüten dafür; denn Brot ist nur dem Körper Nahrung, die Narzisse aber nährt die Seele. (zit. n. Krausch, 2003, S. 305)

(Quelle)

 

 

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