Wer mit Märchen aufgewachsen ist, kann in der Wiederbegegnung mit diesen einst so bedeutsamen Geschichten die Wurzeln seiner Einstellung zum Leben wiederfinden.
Eine junge Frau hatte sich mit dem Pechmariechen aus Frau Holle identifiziert: Sie hasste das Goldmariechen, dem alles von selbst gelang, und bemitleidete das Pechmariechen, dem nichts gelang: “Eigentlich sollte man mit ihr Mitleid haben, weil sie ja vielleicht in Wirklichkeit depressiv war.”
Das ist ein interessanter Aspekt: Die Mutter hatte ja dem Pechmariechen noch angeraten, sich um nichts zu kümmern. Es hatte also genau das getan, was es sollte, und damit kein Glück gehabt. War an dem Backofen mit den Broten, die (nur noch) herausgeholt werden mussten, achtlos vorbeigegangen, und hatte auch die anderen Notwendigkeiten ignoriert. Das führte also direkt in die Depression.
Die Analogien zu ihrer eigenen Mutter konnte die junge Frau dann selbst ableiten, und en Stück weit verstehen, warum sie sich mit dem depressiven Pechmariechen identifiziert hatte, und sich auch mit dem Goldmariechen anfreunden.
Märchentherapie kann zwischen Tür und Angel stattfinden und nach 15 Minuten beendet sein, sie kann schriftlich durchgeführt werden, wie im Artikel “märchenhaft abnehmen” geschildert, oder ein Angebot, eine Interpretation mitzuverfolgen sein, wie hier beim Märchen “Die kluge Else“.
Märchen können – richtig dosiert, und wenn die Situation es zulässt – Schulkindern helfen, das Lesen zu lernen: Oft enthalten die Märchen wiederkehrende Formeln, die die Kinder schnell auswendig können; so müssen sie den gedruckten Text bloß noch wiedererkennen.
Kinder lassen sich gerne von Märchen faszinieren und genießen es, wenn ihnen persönlich vorgelesen wird, als eine seltene Form der Zuwendung, bei der sie sich oft auch kreativ einbringen.
Dass sie bei einer überschaubaren und spannenden Geschichte immer gut ausgehen, macht vielleicht ihren größten Wert aus: Das Kind identifiziert sich mit dem Helden, der, allein oder mit magischer Hilfe, zum Schluss die gerechte Belohnung erhält.
Oder die eigentlichen Probleme tauchen in einer anderen Situation auf, immer gibt es aber einen Bezug zum Lieblingsmärchen, und die Möglichkeit, kreative Lösungen zu finden.
Man kann diese Analyse gut mit freiem Zeichnen oder Malen kombinieren; nonverbal ergeben sich andere Assoziationen als verbal, manchmal auch konkrete Konzepte und Lösungen.
Nicht immer ist die Moral der Geschichte frei zugänglich; handelt es sich darum, Illusionen aufzulösen, kann zum Beispiel das “Tischlein Deck Dich” als Hinweis auf allgemein verbreitete Wünsche und Konflikte dienen.
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