Für unser Verständnis von Politik und Gesellschaft hat die Diagnose “Narzissmus bei Donald Trump“ wohl keinen großen Fortschritt gebracht, und mit seiner Abwahl ist auch nicht das Thema “Narzisstische -Gesellschaft” plötzlich bereinigt und “gegessen”.
Für Comedians bleibt noch, den einen oder anderen Sketch zu bringen – etwa über den schlechten Verlierer, der an eine manipulierte Software bei der Stimmenauszählung geglaubt hat oder an Fehler bei der Post, die mit den Wahlbriefen ein teuflisches Hokuspokus angerichtet hätte:
“Es hat unzählige Stimmzettel gegeben, die an die Absender zurückgeschickt wurden mit dem Vermerk “Empfänger unbekannt verzogen”, darunter auch viele, die zurückkamen, bevor sie überhaupt abgeschickt wurden.”
“Rund die Hälfte der Wähler waren einfach zu dumm und undankbar, um seine Größe zu erkennen” – ließe sich der Gedanke fortspinnen, und so bleibt uns wenigstens, anzuerkennen, dass wir dem Aufsteiger und Helden doch den real-existierenden Begriff “Fake News” zu verdanken haben, die es längst schon gegeben hatte, aber seltener und unter anderem Namen.
Neu sind nur selbstregulierende Netzwerke zum dezentralen Verbreiten von Gerüchten, wie dem, dass US-Militärpolizei in Frankfurt am Main einen Internetserver verhaftet hätte, der an “der Wahlmanipulation beteiligt” gewesen sein müsse.
Dass mit Trump, Biden, Sanders & Co. längst eine gerontokratische Allianz existiert, die “Die Demokratie” (“Herrschaft des Volkes” soll ja wohl nicht heißen: “Herrschaft der alten Männer”) abgelöst hat, steht auf einem anderen Blatt.
Ob Trumps “Handeln”, ob seine getwitterten Erwägungen, die so viele beschäftigt hielten, irgend einen Nutzen für die Allgemeinheit erzielt haben, wäre die entscheidende Frage. Auf seinen Golfplätzen gilt “Members only”, und Umweltschutz wurde ausgehebelt.
Ein Fortschritt für das Glück der Menschheit ist auch in sozialen Fragen nicht zu erkennen, noch nicht einmal “der gute Wille” – doch muss der im jeweiligen historischen Augenblick auch von realen Fortschritten begleitet sein.
Wo es um Macht geht, kommt es darauf an, was man daraus macht und wie man sich dagegen wehrt, wenn sie schädlich, giftig oder toxisch in die Umwelt gerät; die Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen spricht “… von Persönlichkeitsstörungen, die mit Empathielosigkeit einhergehen”, und meint, Narzissten seien derart egozentrisch, dass es ihnen nicht einmal bewusst ist, wie sehr sie andere verletzen – von “Schadensabsicht” könne “… daher nicht die Rede sein, eher von einer extremen Indifferenz”.
Im Deutschlandfunk hat Pieke Biermann das Buch „Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren“ vorgestellt, es “… heißt im Original schlicht „Les Narcisse: Ils ont pris le pouvoir“: Narzissten an der Macht also” vorgestellt und charakterisiert “Narzissmus”:
Ein schillernder Begriff, ein Komplex aus psychoanalytisch-theoretischen, klinisch-psychiatrischen, später soziologischen und kulturellen Bausteinen, der immer feiner differenziert wird. Spätestens seit Donald Trump ist Narzissmus anscheinend in aller Munde, aber was meint man heute eigentlich, wenn man jemanden „narzisstisch“ nennt?
Genauer: Wer meint was damit? Und was hat eine individuelle Störung mit dem Hier und Heute zu tun?
Anders gefragt: “Was hat eine im sozialen Umfeld “gereifte” Störung mit der Gesellschaft, mit uns allen zu tun?
Ebensogut können wir die Frage auch fallen lassen: Die Wissenschaft ist noch nicht so weit, steckt vielleicht, ohne es zuzugeben, in einer Sackgasse und verursacht mit ihrer immer verwinkelteren “Begrifflichkeit” ab einem gewissen Kipp-Punkt eher mehr Verwirrung als zunehmende Klarheit.
Nationalstolz (wie im “America First”) in allen möglichen Ausformungen mit “Narzissmus” in Verbindung zu bringen mag verlockend sein – doch einen “Nationalcharakter” zu definieren ist eigentlich unmöglich; es gibt nicht “Die Deutschen” oder “Die Amerikaner”, es gibt aber zu wenig überlegte Loyalität zum eigenen Land: Wahrscheinlich sprechen die “Riots” vom 06.01.2021 in Washington für sich:
Kaum Widerstand der Polizei beim Einbruch ins Capitol. Drinnen: Bilder/Videos von Polizisten, die für Selfies mit „Demonstranten“ posen. Und dann: Gehen alle „in peace“ nach Hause. Ich lese von gerade mal 13 Festnahmen. Muss mich das stutzig machen?
Doch, das muss “stutzig machen”, zumal bei anderer Gelegenheit die “Capitol-Police” gleich 300 Demonstranten, von denen man glauben könnte, sie hätten sich bloß mal zu einem Gruppenfoto auf die Stufen des Capitols aufgestellt, verhaftet hat. Trump gefährdet die Demokratie oder ist brandgefährlich.
Dabei kommt es sehr auf das “Gefolge” an, auf die Vermittler, Überträger, auch auf die, die alles “unfassbar” finden und nichts dagegen organisieren.
Das Fatale am Narzissmus ist wahrscheinlich, dass es überall “Spuren” des Narzissmus gibt, die aber zu immer verschiedenen Orten führen, so dass sich anhand der Spuren bestimmt nicht ermitteln lässt, was “der Narzissmus” ist. Das Thema ist in den Schlagzeilen, in der Nachrichtensuche finden wir “News” wie
- “Was einen Narzissten ausmacht”,
- “4 Anzeichen, an denen ihr erkennt, ob ihr einen Narzissten datet”,
- “Opfer von Narzissmus möchte aufklären”,
- “Die Zukunft bringt uns mit dem Sieg über Corona das Ende des Narzissmus”,
- “Psychoanalytiker sind keine perfektn Menschen” … und Trump entspricht einem Symptom, das Otto Kernberg als erster beschrieben zu haben meint. (D. h. dem bösartigen Narzissmus.)
- “Wir gehen zwar ständig mit psychologischen Kategorien um, sprechen von Narzissmus, Burnout, Depression, aber die wenigsten wissen, was sich hinter diesen Störungen genau verbirgt, wie man sie behandeln kann.” Ein Radio-Interview von 30 Minuten Dauer will Vorurteilen gegenüber der Psychiatrie und gegenüber psychisch kranken Menschen mit Aufklärung begegnen.
- Am Arbeitsplatz vergifte “Ein Narzisst im Team immer die Arbeitsatmosphäre”, und manchmal helfe nur die Kündigung.
So kann man endlos Mosaiksteichen zum großen Bild des Narzismus sammeln, fragt sich natürlich dabei, wohin das jeweils gehört, und wo hier oben und unten ist:
Nun, das ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern ausdrücklich eine Meinung im Dezember 2020, der sich dann viele anschließen – implizit mit dem Aufschrei, dass es doch nicht gerecht ist, die ganze Aufmerksamkeit, die wir doch alle so sehr brauchen, an einen Narzissten zu verschwenden.
Auch bei Trump ist unsere Aufmerksamkeit nicht gut aufgehoben – seine “toxische Männlichkeit” hätte aber Gefallen gefunden, speziell bei vielen Frauen, die bei der “Identitätsfrage” “Welche Rolle kommt Männern und Frauen in der Gesellschaft zu?” der “hegemonialen Männlichkeit” ihre Stimme gaben. Anders gesagt: Die Stimmen der Frauen waren (wahl-) entscheidend. Odr hängt alles mit “Macht und Nebenwirkungen der Manipulationsindustrie, die sich mit und um marktdominante Online-Plattformen gebildet hat” zusammen?
Im Mythos gibt es eine weibliche Stimme, die zum Ende hin ganz bestimmt nicht autonom den freien Willen zum Ausdruck bringen kann, die der Echo, auf deren Bedeutung hier schon im Vorfeld noch einmal hingewiesen sei:
Während einerseits eine Welle von Büchern über “weiblichen Narzissmus” und “toxische Mütter” über den Bücher-Markt schwappt, handeln die Nachrichten nicht davon, sondern von “Männer-Eskapaden”, von Ausgeflippten, Irren, Kriminellen, Terroristen, von Mördern und Selbstmördern.
Wenn Euch das Bild bekannt vorkommt – wir hatten es mal am Ende eines Artikels zum weiblichen Narzissmus im Zusammenhang der Narziss-Echo-Episode vorgestellt , könnten wir auch über die unterschiedlichen Blickachsen und -Symmetrien dieser Darstellung nachdenken: Genau genommen, würde Narziss in dieser Darstellung doch gar nicht sich, sondern uns sehen, und der Teich wird für die Betrachter, die ihn als Spiegel nehmen, Narziss “von unten” sichtbar machen, von vorn-oben sehen wir ihn ungespiegelt.
John William Waterhouse, Echo und Narziss (1903), modifiziert
Eine Serie von Variationen der Narziss-Echo-Begegnung, die Conny Habbel erstellt hat, veranschaulicht, dass alles auch ganz anders hätte sein können – bis hin zum Rollentausch von Narziss und Echo, so dass sie den Platz an der Quelle einnimmt und er (gekränkt?) ihr den Rücken zukehrt. Sogar gemeinsames “In-die-Quelle gucken” und spielerisches Plantschen erscheint hier möglich.
Damit ist “die Perspektive Echo” vielleicht schon angedeutet; In der Utopie ist vieles möglich, sind Alternativen denkbar, und so oder so steht Echo sinnbildlich für die zweite Seite, die Narzissmus so wie jede beliebige andere Medaille auch hat.
Paradox mag es dabei wirken, dass wir alle doch keine Narzissten sind, denn Narziss hatte Echo “narzisstisch abgewehrt” (was wir ja nie tun würden), und wir brauchen ein Echo auf unsere Äußerungen, sind sogar verstört, wenn es ausbleibt…
Übersicht: Ovid, Der Narzissmus-Komplex, Episoden