Wenn Manfred Spitzer uns – oder den Jugendlichen in der Gesellschaft – die Gefahren des Nicht-mehr-selbst-Denkens aufzeigt und vor der digitalen Demenz warnt, heißt das ja nicht, dass er das Medium Internet nicht selbst auch nutzen würde:
Eine E-Mail schreibt man weit eher als einen konventionellen Brief per Schneckenpost. Und so bekomme ich sehr viele E-Mails, freundliche und weniger freundliche.
Das steht so in seiner Leseprobe, und wer (digital) publiziert, für den sind Kommentare und Leserbriefe Treibstoff und Futter, Anerkennung und Ansporn. “Und so bekomme ich sehr viele E-Mails” – das ist doch phantastisch und eine narzisstische Befriedigung, sich so im Fokus der Aufmerksamkeit zu finden.
Ja, wir haben schon digitale Zeiten, auch die Hirnforscher arbeiten nicht mehr mit analogen Rötgengeräten und schwarz-weiß-Film, sondern digital und sie können ihre Bilder so darstellen, dass Gehirnaktivität als farbige Region abgebildet wird. Koreanische Psychiater stempeln junge Leute, die unkonzentriert und nervös sind, als “digital dement” ab, und Spitzer hat den Ausdruck gerade mal übernommen.
Nicholas Carr
Wer bin ich, wenn ich online bin…
und was macht mein Gehirn solange?
Wie das Internet unser Denken verändert
hat Spitzer wohl die Vorlage geliefert, augenscheinlich bis in die Details der Argumentation:
Neuesten Studien zufolge, so zeigt Bestsellerautor und IT-Experte Nicholas Carr, bewirkt bereits eine Onlinestunde am Tag erstaunliche neurologische Prägungen in unserem Gehirn.
Wer das Internet nach Informationen, sozialen Kontakten oder Unterhaltung durchforstet, verwendet, anders als beim Buch- oder Zeitunglesen, einen Großteil seiner geistigen Energie auf die Beherrschung des Mediums selbst. Und macht sich um die Inhalte, buchstäblich, keinen Kopf. Die Folge: Im Internetzeitalter lesen wir oberflächlicher, lernen wir schlechter, erinnern wir uns schwächer denn je. Von den Anpassungsleistungen unseres Gehirns profitieren nicht wir, sondern die Konzerne, die mit Klickzahlen Kasse machen.
Sicher, IT und Web sind Wirtschaftsfaktoren, und all die i-Bindestrichgeräte eine Mode, von der die Benutzer weniger lassen werden als die Münchener vom Oktoberfest.
Ob das im Einzellfall zur Sucht führt, wäre zu überprüfen.
Süchtiges Verhalten mit Krankheitswert liegt vor, wenn dieses … sich selbst organisiert hat und sich rücksichtslos beständig zu verwirklichen sucht. Suchthaltungen als Folgen von mangelndem Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühlen, von Verantwortungsscheu und Problemangst werden meist in Kindheit und Jugend erlernt. (Quelle)
Nun, es gibt nicht die optimale Erziehung, und auch nicht die optimale Frustration. Dass Kinder nicht in der Lage sind, sich sinnvolle Informationen aus dem Web zu ziehen, liegt natürlich an ihrem Informationsmangel – aber auch am Schrott, den das Internet als “Informationen” anbietet, und an der Art, wie diese dargeboten werden. Bei Wikipedia arbeiten mehr Autisten mit als irgendwo sonstund mit eisernem Besen wird hinweggefegt, was nicht zum Stil des Hauses passt. Wikipedia ist in den Suchergebnissen immer ganz oben. Ds Ranking der Suchergebnisse ist willkürlich – wer nachdenkt, findet für “willkürlich” andere, genauere Entsprechungen.
Googeln führt nicht auf die Schnelle zu relevanten Ergebnissen, Informationssuche kann auch mit Suchmaschine wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen sein. Und natürlich heißt, das gesprochene Wort aufnehmen noch längst nicht, eine Sache beherrschen.
“Cinema, radio, television, magazines are a school of inattention: people look without seeing, listen in without hearing.” -Robert Bresson
Das gilt auch für Blogs, das ist spürbar. Die Idee hinter den Internet-Blogs war ja einstmals, als Blogger vom Konsumenten sich zum Produzenten von Information oder Meinung zu emanzipieren, medienkompetent zu werden.
Wir können neben der digital verursachten Verblödung noch eine alimentär verursachte annehmen – Fruchtzucker hemmt die Lernfähigkeit, sollten aber auch mal schauen, wie Sucht denn überhaupt “funktioniert”.
Als PR-Mann kann ich Manfred Spitzer nur beglückwünschen, sein Buch verkauft sich prächtig und nun ist er Teil des wirtschaftlichen Komplexes, den er so gerne angreift.
So lesen wir es auf der digitalen Spielwiese.